vfm rückblick dortmund 2022 tag 2

Frühjahrs­tagung 2022 im Deutschen Fußball­museum: Tag 2

Der Gamsbock im Büro

Der Einstieg in den zweiten Tag war geprägt von sehr viel Leiden­schaft, bei den Preis­trägern und Preis­trä­ge­rinnen des Marianne-Englert-Preises, die dieses Jahr allesamt von der Hochschule Darmstadt stammen. Mit viel Kompetenz und Leiden­schaft präsen­tiert Jasmin Sessler ihre Arbeit zu der Social Media Reich­weite von BR Retro. Nach Entdecken des Retro-Angebots entwi­ckelte sie eine intrin­sische Eigen­mo­ti­vation: „Ich war total begeistert von dem Angebot an alten Schätzen und dachte mir Wow! Ich möchte, dass die jungen Leute das sehen und daher beschäf­tigte ich mich mit: Wie bekomme ich die jungen Leute auf unsere Plattform.“

Sie hat verschiedene Maßnahmen im Laufe ihrer Arbeit auspro­biert und dabei auch sehr sorgfältig und trans­parent ausge­wertet, das waren mit die Gründe, warum die Jury ihre Arbeit auch prämierte. Neben eigenen Erhebungen flossen bereits bekannte Erhebungen in die Arbeit ein, so zum Beispiel, dass 90 % des Klick-Impulses in der Mediathek vom Teaserbild ausgeht.

60 % der User von Retro kommen aus der Mediathek selbst, rund 20 % aus Social Media, wovon 98 % von Facebook stammen. 16,3 % stammen über Suchma­schinen, wobei dort vor allem nach bereits bekann­teren Videos gesucht wird. Eine weitere Quelle war das proaktive Kontak­tieren von regio­nalen Newsseiten, die aufgrund einer Aktua­lität die Videos teilen sollten. Videos mit Titeln wie „Gamsbock im Büro“ performen in der Mediathek sehr gut, werden aller­dings in der Suche natürlich schlechter gefunden.

Ein Stolper­stein war dabei unter anderem auch die Umsetzung einer neuen Urheber­rechts­ver­ordnung der EU, welche dafür sorgte, dass alle Teaser­bilder verschwanden. Es zeigt sich, wie agil man sein muss, wenn man in den sozialen Netzwerken Reich­weite generieren möchte. Gut in den Netzwerken performt haben Videos, die auch eine gewisse Diskussion anstoßen. Ohne Teaser­bilder musste man sich natürlich Abhilfe schaffen, also wurden kurze Video­schnipsel einge­bunden, welche dann auf das Mediatheken-Video verwiesen.

Weitere Ansätze waren die thema­tische Einbindung der Videos in bestehende Newsletter im Haus, das Social Seeding in themen­ori­en­tierten Facebook­gruppen und auch das Einbinden in Vorle­sungen. Gerade das Einbinden in Newsletter funktio­nierte sehr gut, die Conver­si­onrate war hier sehr hoch, wohin­gegen die didak­tische Einbindung in Vorle­sungen für Klick­zahlen nicht relevant war. Ein Faktor, der nicht zu unter­schätzen ist, bleibt natürlich der Zeitaufwand, welcher für das Social Seeding betrieben werden muss und immens hoch ist, gerade wenn man es so umfassend betreibt.

Nicht weniger beein­dru­ckend war auch die Präsen­tation von Till Wolf, welcher im ZDF aktuelle Erkennt­nisse aus dem Projekt-Management präsen­tierte und dabei einen anschau­lichen Leitfaden entwi­ckelte, welcher „agil working“ Ansatz im Archiv­umfeld imple­men­tieren hilft.
Dabei beruhte seine Heran­ge­hens­weise auf dem Vergleich mehreren agilen Methoden, z. B. Design Thinking, also einer sehr nutzer­zen­trierten Heran­ge­hens­weise, die vor allem in der Software­ent­wicklung gerne angewendet wird.

Der BR und der Söderbug

Auf große Erfahrung im Einsatz von KI-Systemen kann der Bayerische Rundfunk zurück­blicken, dort ist man seit 20 Monaten dabei, die Gesichts­er­kennung von DeepVA im Produk­ti­ons­alltag zu nutzen. Die archi­vierten regio­nalen Nachrich­ten­sen­dungen werden mittels automa­ti­scher Auslesung der Bauch­binden und Erfassung zugehö­riger Gesichter dazu genutzt, ein KI-Modell zu trainieren. Mittler­weile kann der BR somit 3.800 regionale Persön­lich­keiten vollau­to­ma­ti­siert erkennen, wobei 60.000 der dadurch gewon­nenen Bilddaten als Trainings­ma­terial genutzt wurden. Dabei gab es auch einige lustige Momente, berichtet Jonas Schreiber: Dadurch, dass Markus Söder sehr oft im Video­be­stand des BRs vorkommt und deshalb auch zu einer sehr großen Varianz an Trainings­daten führte, wird er nun leider auch häufiger erkannt als andere Politiker, welchen das BR-Team dann als Söder-Bug bezeichnete.

Eine für den Daten­schutz bedeutsame Rolle kommt dem nun neu geschaf­fenen Berufsfeld des KI-Managers zu, welcher als „Human-in-the-Loop“ darüber entscheidet, welche Person Teil eines KI-Modells wird und welche nicht. Dabei gibt es auch die Möglichkeit Personen nur zeitlich begrenzt zu erkennen, wenn sie ihre Funktion oder Amt verlassen, wird die KI diese dann nach einer gewissen Zeit automa­tisch vergessen. Somit ist garan­tiert, dass nicht nur die Daten auf dem Server des BR bleiben, sondern auch der Daten­schutz gewahrt bleibt.

Doch auch in der prakti­schen Anwendung legt man als Sender hohe Maßstäbe an:
Die Qualität ist sehr wichtig im Umgang mit Gesichts­daten. DeepVA bietet viele Möglich­keiten, die Erken­nungs­leistung einzu­stellen. Z. B. kann man mit dem Konfi­denzwert angeben, ab welchem Grad der Überein­stimmung ein Gesicht erkannt wird. Auch hier musste man erstmal Erfah­rungen sammeln und hat sich dann dazu entschlossen Gesichter lieber nicht zu erkennen, statt falsch zu erkennen. Eine besondere Hürde stellte die aufkom­mende Pandemie dar, auf einmal mussten Gesichter auch mit Masken erkannt werden.

Im Zuge der KI-Nutzung wurde auch die Diver­si­täts­analyse von DeepVA getestet und so konnte das Quali­täts­ma­nagement von dieser quanti­ta­tiven Analyse mitpro­fi­tieren, ohne dass es explizit gewünscht wurde. Ein Mehrwert, da man im ÖR auch die BBC 50:50 Challenge aufgreifen möchte und mit der Analyse wichtige Einblicke in die Diver­sität des eigenen Contents erhalten konnte.

In der Zusam­men­arbeit mit DeepVA hat der BR vieles gelernt und sich auch über neue Jobprofile im Umgang mit der KI Gedanken gemacht. “Die Trainings­da­ten­ver­waltung ist das Kernthema in der KI.” Zu unter­scheiden, ob eine Person relevant ist oder nicht, das kann nur ein Mensch.
Deshalb glaubt Jonas Schreiber an einen Wandel, vom Infor­ma­ti­ons­spe­zialist hin zu einem Daten­spe­zia­listen. “KI ersetzt keinen Dokumentar oder Dokumen­tarin, sondern sie sind vielmehr the-human-in-the-loop, die Tätigkeit entwi­ckelt sich weiter, hin zu einem/einer KI-Manager:in.” so Stephanie Bonsack.

Das Archiv wird Produzent!

Kaum ein Projekt hat in den vergan­genen Jahren so viel Aufmerk­samkeit auf die Archive geworfen, wie ARD Retro. In einem Schlag­licht stellten SWR, BR und RBB das Projekt vor und gaben einen Einblick in den Ablauf. Binnen 18 Monaten wurden über 17.000 Videos produ­ziert, die Beson­derheit dabei: Die Archive sind nicht mehr nur Zulie­ferer, sondern gestalten nun auch Programm. „Das Archiv wird Produzent“ überspitzte Klaus Weisenbach diese Entwicklung. Und das auch sehr erfolg­reich: Mit über 10 Millionen Zugriffen brauchen sich die Retro Clips nicht in der Mediathek zu verstecken, resümiert Christian Abt vom SWR den Erfolg der Reihe. Derzeit werden nur Clips bis 1965 digita­li­siert, das hat damit zu tun, dass ab 1. Januar 1966 ein neues Urheber­rechts­gesetz gab, welches es juris­tisch schwie­riger macht, altes Material zu verwerten.

„Ist erstmal ein Thema gefunden, geht es an die klassische Dokumen­ta­ti­ons­arbeit. Es wird ein Beitrag gesucht und geliefert, dann aber geht es auch um das Schreiben von SEO optimierten Teaser­texte. Dazu wird das beste Teaserbild gesucht und mit dem Retro-Wimpel versehen.“ berichtet Sara Tazbir aus der prakti­schen Arbeit des RBB Retro Team.

Über diese neuen Tätig­keiten sind nicht immer alle in den Teams erfreut gewesen, ist es doch eigentlich Arbeit der Redaktion, die auch anders vergütet wird. Anderer­seits bietet das Format wie kein anderes eine Bühne für die Arbeit der Archive: die Beschaffung, Bewertung und Bereit­stellung von Infor­ma­tionen. Vorgreifend auf das Motto der FIAT/IFTA Konferenz im Herbst schloss Klaus Weisenbach den Vortrag getreu dem Motto von ARD Retro: „Archive out of the box!“

Die Sphinx und die zehn Gebote der Scrum­master

Einen Einblick in die Nutzung agiler Entwick­lungs­me­thoden aus der Software­ent­wicklung für die Weiter­ent­wicklung der Archive gab Sebastian Seng vom ZDF in Mainz. Ziel war es ein System zu schaffen, was einem zum Beispiel auch bei komple­xeren Suchan­fragen möglichst einfach weiter­hilft. „Ich suche ein Clip, den ich für unter 30 Euro zur Nutzung auf dieser Social-Media-Plattform lizen­zieren kann“ beschreibt Sebastian Seng eine exempla­rische Anfrage, die mit Hilfe des Systems gelöst werden soll. Und das für alle 6.000 Anwender:innen und möglichst auch mit Einbe­ziehung einer kolla­bo­ra­tiven Arbeits­weise.

Um das zu entwi­ckeln, braucht es nicht nur ein Projekt­ma­nagement, sondern auch Know-how im Management von IT-Projekten. Schon allein die Projekt­struktur mit all ihren Säulen und Zustän­dig­keiten war eine Heraus­for­derung. Da das Archiv auch multi­medial genutzt werden wird, gibt es zwar verschiedene Säulen, aber ein gemein­sames Fundament, welches, aggre­giert von KI, den User auch möglichst schnell an das Ziel bringen soll.

Wer sich für Projekt­ma­nagement inter­es­siert, dem ist die gesamte Präsen­tation von Sebastian Seng ans Herz zu legen. Zwei Kernstücke möchte ich aller­dings aufgreifen: Man hat sich auf zehn Gebote geeinigt, welche es umzusetzen gab. Dazu zählen zum Beispiel die 80/20 Regel – auch wenn etwas erst zu 80 % fertig­ge­stellt ist, geht man schon mal an den Start und nähert sich iterativ der Lösung. Und auch eine gesunde Fehler­kultur ist eines der großen Gebote, „Man muss auch mal Fehler machen – Haupt­sache man macht irgendwas!“

Doch nicht nur Gebote braucht es, sondern auch eine schema­tische Vorge­hens­weise. Wie bekommt man den alltäg­lichen User mit den Entwicklern in einen Austausch, wie erkennt man Probleme und findet effizient Lösungen? Eine metho­dische Heran­ge­hens­weise ist essen­ziell für den Erfolg. Beim ZDF wählte man den DevOps Ansatz mittels Scrum – eine liegende Acht. Das Zeichen für Unend­lichkeit beschreibt den immer­wäh­renden Austausch zwischen Entwicklern (Software / IT-Seite) und den Operations-Leuten (User / Archive), durch diesen Prozess ist gewähr­leistet, dass es eine konti­nu­ier­liche, nutzer­zen­trierte Entwicklung des Sphinx-Systems gibt. Hier zahlt sich Sengs Erfahrung in der Prozess­steuerung aus:  Er versteht sich als Facili­tator – er unter­stützt Kolleg:innen beim Wandel der Prozesse. Man ist „Teilchen­be­schleu­niger in einem wandlungs­re­sis­tenten Umfeld.“ fasst er sein Schaffen am Ende des sehr dynami­schen Vortrags zusammen. Auf die Frage, ob es perspek­ti­visch eine gemeinsame Archiv­basis der ARD & ZDF geben kann, muss er aller­dings passen, beide Unter­nehmen sind zu sehr mit der Imple­men­tierung ihren aktuellen Struk­turen beschäftigt, leider.

Im Spannungsfeld zwischen Zeitgeist und Forschung: Alte Stereotype auf neuer Bühne

Das große Highlight der Tagung war die Diskus­si­ons­runde am Diens­tag­nach­mittag.
Ausgangs­punkt war ein Beschwer­de­brief von Dr. Katrin Pfeiffer, ihres Zeichens Profes­sorin am Asien-Afrika Institut der Univer­sität Hamburg über einen kurzen Clip aus der ARD Mediathek, bei dem ein Gambi­sches Tanzballett in Baden-Baden auftrat. Das Material ruhte jahrzehn­telang im Archiv des SWR und wurde vergan­genes Jahr als SWR Retro­beitrag veröf­fent­licht.
In ihrem Brief monierte sie den mangelnden Bezug des Beitrags zu den Grund­sätzen von SWR Retro, bei der regionale Geschichte gezeigt werden soll. Im Beitrag selbst sieht man außer Teilen der Tanzdar­bietung aber wieder regionale Gebäude oder Personen. Völlig ohne vorherige Einordnung gibt der Beitrag den damaligen Sprecher wieder, welcher von Menschen aus dem Busch spricht und ähnliche rassis­tische Stereotype wiedergibt. Zudem sind die Damen des Ballett Oberkör­perfrei zu sehen, was damals so üblich war, aber mittler­weile auch verboten ist – dies zum Prolog.

Frank Adam, Haupt­ab­tei­lungs­leiter IuD beim SWR reagierte prompt auf den Leser­brief, der Kontakt wurde gesucht und das Stück aus der Mediathek genommen. Norma­ler­weise würde so etwas nicht unbedingt direkt passieren, aber in diesem Fall überzeugte vor allem die sehr wissen­schaft­liche und profunde Begründung. Diesen Brief nahm das Programm­ko­mitee der Frühjahrs­tagung zum Anlass, das heiße Thema unter Experten:innen zu disku­tieren. Frank Adam erklärte, dass man die einzelnen Stücke durchaus auch im Archiv und Programm disku­tiert. Zensieren möchte man nicht, gerade weil wenn es von vielen Seiten dem ÖRR oft vorge­worfen wird, eine histo­rische Einordnung erfolgte bisher in der Regel über den Wimpel, der das Material als Archiv­stück kenntlich macht und die FAQs. Dass dies so nicht bei allen Filmen ausreicht, zeigt die angestoßene Diskussion.

Neben den beiden vorher genannten waren auch Gábor Paál einge­laden, welcher beim SWR Archiv­radio arbeitet (also ARD Retro als Audio­format) und Cécile Vilas, Direk­torin vom Schweizer Verein Memoriav. Frau Vilas verwaltet nicht nur ein sehr großes audio­vi­su­elles Archiv, sondern veran­staltet auch die Bildungs­ver­an­stal­tungen in diese Richtung. Geleitet wurde die Diskussion von Jörg Wehling vom Deutsch­land­radio Köln. Dass die Betei­ligten auf den direkten Austausch und Diskussion vor Publikum einge­lassen haben, muss man Ihnen hoch anrechnen und es wurde auch belohnt. In den eineinhalb Stunden entstand eine sehr lebhafte Diskussion über den Umgang mit Archiv­stücken, welche Formen der Konno­tation es bräuchte und wie man das Format mit einer zeitge­mäßen Einordnung statt­finden lassen kann. Denn, das betonte Dr. Pfeiffer „Ich bin großer Fan von ARD Retro und finde das Format toll.“ Bietet es gerade auch aus wissen­schaft­licher Sicht einen kleinen Einblick in die Sozio­logie der damaligen Zeit.

Hinweis: Die gesamte Diskussion, mit reger Betei­ligung aus dem Publikum, können wir hier sachgemäß nicht in vollem Umfang leisten. Daher verweisen wir auf die Aufzeichnung der Diskussion und legen es jeder inter­es­sierten Person ans Herz, sich über die Website des vfm diese Aufzeichnung anzuschauen.

Frau Dr. Pfeiffer bot den Anwesenden an, als kompe­tente Ansprech­part­nerin zur Verfügung zu stehen, wann immer es fragliche Inhalte gibt und dort einer wissen­schaft­lichen Einordnung bedarf. Neben dem stärkeren Austausch zwischen Wissen­schaft und Archiven war es vor allem Gábor Paál, dessen Vorschlag, einer stärkeren Einordnung des Materials zu forcieren, eine einhellige Zustimmung fand.

Die Diskussion war auch während des gesamten Abends, welchen man beim „Pottpa­laver“ in einem ehema­ligen Straßen­bahn­depot verbrachte, präsent und wird daher bei vielen in Erinnerung bleiben.

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